Schnell mal eben leben…
Es ist eine erschreckende Tatsache und nicht leicht zu akzeptieren. Aber es erscheint mir als ein Fakt. Deutschland ist ein Entwicklungsland! Es herrscht bittere Armut in unserer Mitte! Zeitarmut! Schnell noch mal dies, schnell noch mal das, immer mehr Arbeit in der gleichen oder noch kürzeren Zeit. Jeder spart sie, doch keiner hat sie – die Zeit. Auf der Straße hält der Drängler stets eine Handbreit Sicherheitsabstand. Wenn sich jemand an einer dicht befahrenen Straße erdreistet, aus einer Seitenstraße ohne Ampel einfahren zu wollen, gibt die Mehrheit Gas, anstatt „Lichthupe“. Auch beim Einsteigen in den Zug will der Eine schneller als der Andere sein, ebenso an der Kasse. Und wehe, man will rückwärts in die eigene Hofeinfahrt einbiegen und auf der anderen Straßenseite parken Autos. Da kommen die Drängler und Schlängler, haben keine fünf Sekunden Zeit, um den Einbiegevorgang abzuwarten, fahren ohne Rücksicht auf Verluste drauf los und hupen, was das Zeug hält. Überall drängeln, um schnell noch etwas erledigen zu können, möglichst viel an einem Tag erledigen und erleben und wenn man sich beeilt, hat man Zeit gespart. Das ist eine komische Sache, dieses Zeitsparen. Denn wofür sparen wir die Zeit, etwa für die Ewigkeit?Oder um immer mehr mit dieser Zeit anfangen zu können, um immer mehr zu erreichen, mehr zu erleben? Höher, schneller, weiter? Immer mehr erreichen innerhalb eines Zeitraums? Genau dieses Denken ist allgemein bezeichnend für unsere heutige Zeit. Quantität statt Qualität steht nicht nur bei den Lebensmitteln oder den Fernsehprogrammen im Vordergrund. Selbst das Leben soll immer länger dauern, unabhängig davon, ob der betreffende Mensch überhaupt noch lebt, oder nur noch maschinell am Leben erhalten wird. Bei den Social Networks haben wir 250 Freunde und am Ende ist keiner darunter, auf den man sich verlassen kann, wenn man ihn braucht. Möglichst viel erleben zu wollen ist eine zweischneidige Sache. Denn auch hier beeinflusst die Masse der Erlebnisse ebenso deren Klasse. Es ist so, dass man immer mehr durchs Leben hetzt, von Event zu Event und man zwar immer mehr erlebt aber dadurch immer weniger von der Welt wahrnimmt. Ich stehe vor meiner Gartentür und sie scheint wie eine Art Bollwerk gegen den Mainstream zu wirken. Ich trete ein in jene temporäre Blase, in der ich mein eigenes Zeitgefühl geschaffen habe. Ich lasse die Drängler und Raser, die Zeitsparer und Eventsüchtigen dort draußen hetzen und rasen, während ich mich zunächst zum Hochbeet begebe. Dort säe ich einige vorgekeimte Möhrensamen aus, daneben ein wenig Salat und ein paar Bohnen. Während der Gartennachbar gerade dabei ist, einen hochwirksamen chemischen Dünger auszubringen, damit seine Kohlköpfe noch schneller dick werden, streue ich ein wenig Hornmehl in das Hochbeet. Dann nehme ich mir eine Kanne von der Brennnessel-Jauche, die ich vor einer Woche angesetzt habe, und gieße sie als Pflanzenstärkungsmittel an den Pfirsichbaum. Ich vertraue auf die ausgebrachte Mulchdecke zwischen den Erdbeeren, die sich langsam zersetzt, Nährstoffe an den Boden abgibt und zugleich die Erde vorm Austrocknen bewahrt. Der Kreislauf der Natur setzt hier ein und es ist ein konstanter. Stressfrei verrotten die Häcksel auf dem Boden bzw. werden verrottet von Regenwürmern und anderem Getier. Das ist der Lauf der Natur und er stellt sich ganz von allein ein. Die Sonne lugt ein wenig hinter den Wolken hervor und mit einem Mal offenbart sich noch deutlicher eine wunderbare Welt innerhalb der Zeitblase. Ich entschließe mich daher, nun meine mitgebrachte Kamera auszupacken und mich auf die Pirsch zu begeben. Denn es ist ein wahrer Dschungel, der sich mir hier offenbart und der entdeckt werden will. Mit dem Makro-Objektiv auf der Jagd nach der Welt im Kleinen. Jener Welt, die schnell mal übersehen wird, eine Plattform bieten und sie fotografieren. – Das ist schon längere Zeit mein Ziel. Würde ich nun mit dem Dünger im Eiltempo durch die Gegend rennen, um zu versuchen, alles zu beschleunigen und zu verstärken, würde sich mir diese kleine Welt erst gar nicht offenbaren. Es ist ein wenig wie in den Mythen um Feen und Elfen. Unsichtbar würden die Feuerwanzen bleiben, von denen sich zwei Exemplare gerade auf einem Baumstamm paaren. Versteckt wäre die Veränderliche Krabbenspinne, die ihre Farbe an den Untergrund anpassen kann und somit ohnehin nur schwer zu erkennen ist. Ich würde den Aurorafalter, der sich auf einer Blüte niedergelassen hat, nur als bunten Farbklecks im Vorbeigehen wahrnehmen. – Wenn überhaupt. Und die Eidechsen, die sich auf der Trockenmauer niedergelassen haben, würden, während ich an ihnen vorbei stürme, blitzartig im Versteck verschwinden, außerhalb meiner Wahrnehmung. Das Erleben steckt im Kern der Sache, nicht in der Schale. Ein guter Wein braucht Zeit, um zu reifen. Genau so, wie ein guter Augenblick. Mein Plädoyer wäre also: Lassen wir die Masse links liegen und wenden uns dem Detail zu, dem Erleben, dem „Da-Sein“. Entwicklungshelfer haben wir in unserem Land bereits genug. Meine Katzen Cindy und Miezie sind hier gute Lehrmeister, wenn sie einfach nur dasitzen und leben, anstatt nach immer mehr Mäusen zu jagen… Trauen wir uns also mal als selbsternannte Krone der Schöpfung, uns von Stubentigern und Co. etwas über das Leben und vor allem das Erleben beibringen zu lassen. Es könnte sich lohnen! Nicht nur, weil wir dann wirkliches Erleben lernen könnten, was eine große Bereicherung wäre. So, als wenn wir einen guten Schluck Wein in den Mund nehmen, ihn nicht gleich unterschlucken, sondern mit ihm die Geschmacksknospen umspielen, sein Aroma wirken lassen. Es wäre eine Steigerung des Erlebens. Man stelle sich außerdem vor, der Drängler hielte künftig aufgrund nicht mehr zu sparender Zeit einen Sicherheitsabstand ein, der Reaktionszeit und Bremsweg abdecken würde. Man überlege, der Kurierfahrer bekäme keinen Herzinfarkt, weil er zu seiner Tour nicht immer weitere neue Touren dazu bekäme, sondern man ihm die Zeit ließe, seine Arbeit zu tun. Und man bedenke, wie viel Benzin gespart werden könnte, wenn der Autofahrer, der aus der Seiten- in eine Hauptstraße einbiegen will, keine 10 Minuten warten und mit laufendem Motor da stehen muss, bis er losfahren kann. – Wenn man ihm einfach ein Signal zum Einbiegen in die Straße gäbe und dabei etwas das eigene Tempo reduzieren würde. Das wäre ein Gewinn für den Einzelnen, für die Gesellschaft, das zwischenmenschliche Klima und vor allem für den Umweltschutz. Gleiches gilt für den Garten. Der Nachbar könnte auf den chemischen Dünger, der Grundwasser und Böden belastet, verzichten. Stattdessen könnte er auch natürliche Dünger verwenden und selbst Brennnesseljauche herstellen. Um diese herstellen zu können, müsste er entweder eine kleine Ecke seines Gartens den Brennnesseln zur Verfügung stellen. Oder aber, er müsste sie am Wegrand pflücken. In jedem Fall würde für ihn der Wert der Brennnessel steigen, er würde sie schätzen und schützen und würde somit auch eine Futterquelle für Schmetterlingsraupen schaffen und erhalten. Der Nachbar könnte außerdem durch eine Mulchschicht rund um die Erdbeeren ein uraltes und funktionierendes Naturprinzip zur Düngung und Bodenverbesserung umsetzen, bräuchte dadurch die Erdbeeren nicht mehr so oft gießen. Und so würde er sogar noch ein wenig Zeit sparen! Zeit, die er dann dafür nutzen könnte, einfach mal nichts zu tun, als die Welt zu genießen und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen.
Die Zeit ist zum Leben da! Nehmen wir sie uns, anstatt sie zu sparen!it is currently less than 1 wandtatoo Make Duct Tape Dress Form