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Das Kraut des Grauens
Da kommt man völlig arglos zu seinem Garten, im Gepäck die Hängematte sowie einige Tomatenpflanzen, die vor dem Abhängen noch eingepflanzt werden sollen.
Und dann das…
Der Garten mutierte binnen der letzten anderthalb Wochen beinahe zu einem undurchdringlichen Dschungel. Sicher, in den letzten Tagen hat es einige Male geregnet, was zum Wachstum beigetragen haben dürfte, neben den angestiegenen Temperaturen. Doch diese beiden Faktoren rechtfertigen noch lange keine solche Invasion an Grün. Und das, wo ich doch eigentlich nur meine zehn Tomaten einpflanzen und dann eine ausgedehnte Pause vom Alltag einlegen wollte.
Das Leben ist so ungerecht!
Grimmig starte ich die Tomatenpflanzaktion, gehe dann zum Jäten über.
Schimpfend hänge ich mit dem Fuß in einem Stück schlingpflanzenartigem Unkraut fest, komme ins Straucheln und kann gerade noch den Sturz in den Schneckenzaun verhindern.
Mit einem Mal steigt der Frustrationsfaktor deutlich um einige Stufen an. Während ich eine Horde Butterblumen der Erde entreiße, ist es plötzlich beinahe so, als habe mich der Löwenzahn gebissen und mit einer Weisheit gesegnet. Mit einem Mal keimt in mir eine Einsicht. Oder zunächst mal eine Frage…
Wer wird denn gleich in die Luft gehen?
Ich stehe hier ärgerlich, dieses „Unkraut“ droht mir den Tag zu verderben und meinen Spaß an der Gartenarbeit zu vertreiben.
Dabei ist es wie so oft im Leben. Wenn man den Blickwinkel verändert und ein wenig über den Horizont hinaus sieht, erkennt man plötzlich ganz neue Seiten.
Während Unkräuter in Hülle und Fülle ihre Blätter und Blüten in die Lüfte strecken, fällt mein Blick auf eine Hummel, die sich auf einer der vielen Löwenzahnblüten niederlässt und sich am Nektar labt. Und wenn ich mir die Brennnesseln genauer anschaue, kriecht da mindestens eine Raupe entlang, erfreut sich am Blattgrün und ich kann mich bald an neuen Schmetterlingen erfreuen.
Die Blüte einer Distel ist Futterquelle für eine Wildbiene und wenn ich ehrlich bin, sind das schon sehr kontrastreiche, schöne Pflanzen, die hier wachsen. Wildpflanzen.
Mein Blick fällt auf die Kräuterspirale und mit einem Mal ist das herrlich unbeschwerte Gefühl wieder verschwunden, scheint pusteblumenartig vom Winde verweht.
Unaufhaltsam und hinterlistig bohrt sich hier ein ganz böser, hartnäckiger Zeitgenosse durch das Erdreich.
Er treibt seine Wurzeln durch die Erde, verzweigt sie und dringt in die Beete vor, in die Kräuterspirale, sogar vor dem Uferbereich des Teiches macht er nicht Halt. Im Rasen findet er seinen Platz, ebenso zwischen Steinen. Er ist auch nicht wählerisch, was die Lichtverhältnisse angeht, braucht keinen Platz an der Sonne.
Er treibt an etwa 15 Zentimeter langen Stängeln seine Blätter hervor, die in der Form ein wenig an Ahorn erinnern. Und er bringt in seiner Entwicklung auch eine weiße, unscheinbare Blüte hervor.
Dieser Invasor verdrängt durch seine Wuchsfreude alle anderen Pflanzen seiner Größe und ist daher nicht nur in einer Kräuterspirale mit Petersilie, Schnittlauch & Co ein schlechter Nachbar.
Daher gehe ich direkt mit der Harke auf ihn los, treibe sie in die Erde und versuche so, das Übel an der Wurzel zu packen. Doch das erscheint mir bald als sinnloses Unterfangen. Jedes noch so kleine Stück Wurzel, das in der Erde verbleibt oder irgendwo auf die Erde fällt, treibt nämlich wieder aus. Und wenn beim Harken und Herausziehen Teile der Wurzeln ohnehin in der Erde verbleiben, sich die Pflanze dadurch noch mehr verteilt, ist die Sinnlosigkeit bald offenbar.
Ich stelle meine Arbeiten für eine Pause auf der Hängematte ein. Doch meine Gedanken kreisen noch immer um den „Kräuterspiralen-Eindringling“.
Der Giersch ist der Fluch des Gartens.
Warum muss dieses Kraut denn existieren? Und das auch noch ausgerechnet hier?
Ich denke an die anderen Wildkräuter mit ihren Nutznießern. Hat der Giersch vielleicht auch so einen Nutznießer? Und ist dieser vielleicht sogar auch noch selbst nützlich? Dann wäre die Anwesenheit des Unkrauts aus meiner Sicht nicht mehr ganz so störend.
Ich habe allerdings bisher kein Tier gesehen, das sich an den Blättern genüsslich ernährte. Vielleicht steckt in der Blüte ja der Nutzen und Bienen können sie nutzen?
Plötzlich keimt in mir eine andere Idee, gepaart mit einer Erinnerung. Ich hatte doch mal etwas gelesen über den Giersch… Was wäre, wenn ich mir den Feind zum Freund machen würde? Das wäre phänomenal! Oder wenn der Feind gar kein Feind ist? Wenn ich auch hier mal meinen Blickwinkel ändere? Anstatt mich über den Giersch aufzuregen, könnte ich ihn doch einfach…aufessen!
Ja, das ist die Idee!
Giersch lässt sich hervorragend wie Spinat zubereiten. Auch als Salat sind die jungen Blätter genießbar. Und eine Wildkräutersuppe aus Giersch, Löwenzahn und Brennnessel – gewürzt mit Liebstöckel – wäre ja vielleicht sogar ein kulinarisches Highlight.
Wenn das Leben Dir Giersch ins Beet pflanzt, iss ihn auf! – Könnte mein neues Lebensmotto lauten. Oder: Alles hat sein Gutes! Die Natur liefert Leckeres, und das frei Haus. Ohne, dass ich es einsäen müsste. Und dazu kommt auch noch ein besonderer Geschmack, viele Vitamine.
So schaue ich mich nach Rezepten um, werde fündig und beim nächsten Besuch im Garten weicht die Anspannung der Entspannung. Ich freue mich über Giersch, Brennnessel & Co als Bereicherung für den Speiseplan.
Die Kräuterspirale wird gänzlich von den Gierschblättern befreit, die dann auf dem Teller landen. Die Wurzeln bleiben in der Erde, denn wenn man sie nicht durchtrennt, verbreiten sie sich bei weitem nicht so schnell. Und wenn man regelmäßig immer wieder die Blätter entfernt, sterben die Wurzeln auch irgendwann von alleine ab. Denn auch der Giersch braucht die Blätter zur Photosynthese und somit zum Überleben. Daher werde ich ihn so lange abernten, bis er nicht mehr austreibt.
Unter den Hecken am Gartenzaun lasse ich dem Giersch jedoch ein wenig Platz. Auch Brennnessel, Taubnessel und Distel werden zwar aus den Beeten verbannt, aber am Rand haben sie eine Daseinsberechtigung. Auch der Löwenzahn darf wachsen. Seine jungen Blätter schmecken gut im Salat, ähnlich wie Ruccola. Und auch die Wurzel wird geerntet, um sie zu trocknen und daraus eine Art Kaffee herzustellen.
So haben alle etwas davon. Das Wildkraut hat seinen Platz, Wildbiene, Schmetterling & Co eine Futterquelle und ich habe etwas Leckeres zu Essen und zu Trinken. Na, wenn das mal keine erweiterte Symbiose ist!
Und ist dies nicht auch mal wieder ein Sinnbild fürs Leben im Allgemeinen?
Jenes Fazit, wenn man für das Positive offen ist, kann man vermeintlich Schlechtes in tatsächlich Gutes wandeln.